Die kleine weiße Uhr an oberhalb der Tür des Forschungs- & Entwicklungslabor zeigt Thomas M., dass es nur noch 30 Minuten bis zum Feierabend sind. Thomas nimmt sich drei 1.000 mL Bechergläser vom Labortisch und geht zum Reinigungsraum. Als sich die Tür öffnet fällt ihm auf, dass er seine Schutzbrille nicht aufgesetzt hat. Er denkt kurz darüber nach, ob er sich die Schutzbrille holen soll, entscheidet sich jedoch, die Reinigung „mal eben“ so durchzuführen. Es ist schließlich nicht das erste Mal und es ist sowieso noch nie etwas passiert, denkt sich Thomas. Er öffnet den Deckel der mit Lösemittel gefüllten Reinigungsspüle und beginnt die Bechergläser zu reinigen. Plötzlich fällt ihm ein Becherglas aus der Hand. Das Becherglas fällt in das Lösemittel. Thomas M. spürt plötzlich einen Schmerz im Auge. Er spült sich die Augen sofort aus. Der Arzt schreibt ihn später wegen einer Augenreizung für eine Woche krank.

Kennen wir nicht alle einen Menschen, der so oder so ähnlich wie Thomas aus der Geschichte denkt? Vielen Sicherheitsingenieuren und Fachkräften für Arbeitssicherheit wird bei dieser Frage vielleicht ein Bild oder ein Gespräch mit Kollegen*innen in der Erinnerung erscheinen. Es sind genau solche Gedanken, die nicht sicheren Handlung auslösen. Handlungen, die zu Arbeitsunfällen am Arbeitsplatz führen. Ein elementarer Grund für nicht sichere Handlungen sind die Glaubenssätze von Menschen. Glaubenssätze entwickelt jeder Mensch im Laufe seines Lebens. Sie verankern sich sinnbildlich in unserem Unterbewusstsein. Ein spannender Aspekt für den Arbeitsschutz, insbesondere weil wissenschaftlich belegt über 90 Prozent der menschlichen Gedanken und somit auch Entscheidungen unterbewusst getroffen werden. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nicht sichere Handlungen in vielen Fällen nicht bewusst getroffen werden. Als Sicherheitsingenieur und Fachkraft für Arbeitssicherheit ein wichtiger Baustein, wenn die stagnierenden verhaltensbedingten Arbeitsunfälle im Unternehmen reduziert werden sollen.

Glaubenssätze können in einem immer wiederkehrenden Prozess verstärkt oder verändert werden. Vereinfacht kann hier von vier Schritten ausgegangen werden. Wenn zum Beispiel Thomas M. den Glaubenssatz hat, dass das Reinigen von Bechergläsern mit einer Schutzbrille nur lästig ist und er sich sowieso noch nie verletzt hat, dann hat das Auswirkungen auf seine Gedanken. Er wird in seiner unterbewussten Entscheidung sich in der Regel für das Reinigen ohne Schutzbrille entscheiden und entsprechend auch die Arbeiten ausführen. Jetzt ist es die Erfahrung, die darüber entscheidet, ob dieser Glaubenssatz verstärkt oder verändert wird. Wird Thomas durch Mitarbeiter*innen oder Führungskräfte auf sein unsicheres Verhalten angesprochen, dann spürt er, dass dieses Verhalten nicht gewünscht ist. Vielleicht sieht Thomas auch, wie andere Kollegen*innen für sicheres Handeln gelobt werden. An dieser Stelle beginnt der hemmende Glaubenssatz zu wackeln und eine Transformation findet statt. Wird Thomas demnächst für das sichere Verhalten gelobt, dann entwickelt sich immer mehr ein fördernder Glaubenssatz für den Arbeitsschutz.

Für die Arbeit von Sicherheitsingenieuren und Fachkräften für Arbeitssicherheit bedeutet dies, dass bei Begehungen beispielsweise nicht nur Mängel festgehalten werden, sondern auch positive Aspekte. Es muss sicheres Verhalten auch direkt vor Ort gelobt werden. Das gilt im Übrigen für alle Menschen im Unternehmen. Wenn Führungskräfte und Mitarbeiter*innen eine unsichere Situation erkennen, hilft es diese direkt freundlich anzusprechen. Weiterhin sollte es Routine werden, dass sicheres Arbeiten mit positiven Feedback gefördert wird.

Im nächsten Beitrag wird auf die unterschiedliche Wahrnehmung von Risiken am Arbeitsplatz eingegangen und warum hinter fast jeder unsicheren Handlung eine positive Absicht steckt.

Zum Autor:

Stefan Ganzke
Experte für Sicherheitskultur und Kommunikation im Arbeitsschutz
WandelWerker Consulting GmbH

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